Fachtagung INCONECSS 2022: Künstliche Intelligenz, Open Access und Daten dominieren die Diskussionen

von Anastasia Kazakova

Vom 17. bis zum 19. Mai 2022 fand die dritte INCONECSS – International Conference on Economics and Business Information – online statt. In den Panels und Präsentationen ging es vor allem um künstliche Intelligenz, Open Access sowie (Forschungs-)Daten. Die INCONECSS thematisierte die Zusammenarbeit beim Gestalten der Services für wirtschaftswissenschaftliche Forschung und Lehre und wie diese eventuell durch Corona beeinflusst wurden.

Zukunft entfesseln und Forschung dezentralisieren!

Prof. Dr. Isabell Welpe, Inhaberin des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre – Strategie und Organisation an der Technischen Universität München, hielt die Keynote “The next chapter for research information: decentralised, digital and disrupted”. Damit wollte sie die Teilnehmenden dazu inspirieren, die Zukunft zu „entfesseln“ und die Forschung zu dezentralisieren. Erstes Thema ihres Vortrags waren die deutschen Hochschulen. Isabell Welpe nahm uns dabei mit auf eine Reise über drei Stationen:

  1. Was passiert an den Hochschulen?
  2. Wie sieht das Arbeiten von Studierenden, Forschenden und Lehrenden und die Organisation an den Hochschulen aus?
  3. Wie können Hochschulen und Bibliotheken zukunftssicher gemacht werden?

In ihrem Vortrag arbeitete sie heraus, dass die hierarchisch organisierte Lehre momentan oft den rasanten gesellschaftlichen Veränderungen und Neugestaltungen in der Arbeitswelt nicht gewachsen ist. Isabell Welpe schlug daher vor, die Lehre zu öffnen und „bottom up“ zu organisieren. Das bedeute, auf die dezentrale Selbstorganisation der Studierenden zu setzen, (digitale) Räume für Austausch zu bieten und die Lehre auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten zu gestalten. Durch diese Veränderungen könnten die Studierenden, während sie aktiv an der Forschung teilnehmen, lernen, womit gleichzeitig ihre Kreativität und Agilität gefördert werde. Dies sei ein Grundstein für disruptive Innovation; das heißt, Innovation, die bestehende Strukturen bricht und radikal verändert.

Prof. Dr. Isabell Welpe, Inhaberin des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre – Strategie und Organisation an der Technischen Universität München, Grafik: Karin Schliehe

Bibliotheken könnten die bevorstehenden Veränderungen unterstützen und sogar durchaus antreiben. In jedem Fall sollten sie sich auf enorme Veränderungen durch die fortschreitende Digitalisierung der Wissenschaft einstellen. Isabell Welpe beobachtete in der Lehre den Trend zum „digital first“ – ausgelöst durch die Corona-Situation. Auf lange Sicht beeinflusse dieser Trend die Rolle von Bibliotheken als Lernorte, aber werde auch die Interaktionen mit Bibliotheken als Informationsquellen bestimmen. Isabell Welpe ermutigte Bibliotheken daher, zu einem Marktplatz (marketplace) zu werden, um Austausch, Kreativität und Anpassungsfähigkeit zu fördern. Die Transformation dahin sei Aufgabe und Chance, wissenschaftliche Bibliotheken zukunftssicher zu machen.

Zudem rückte Isabell Welpe in ihrer Keynote das Thema Dezentralität in den Fokus. Ein Potenzial der Dezentralität bestehe darin, dass sich Wissenschaftler:innen unmittelbar austauschten und Forschungsdaten und -ergebnisse direkt untereinander teilten, ohne z.B. Verlage dazwischen. Stichworte: Web 3.0, Crypto Sci-Hub und Decentralisation of Science.

In der Fragerunde ging Isabell Welpe auf das Bild von Bibliotheken ein: Bibliotheken könnten Orte sein, wo Menschen hingingen und Dinge machten, wo sie sich austauschten und kreativ seien; es könnten Orte sein, wo Innovation stattfände. Sie sieht Bibliotheken als ein Web-3.0-Ökosystem mit unterschiedlichen Services und ermutigte sie, noch mehr darauf einzugehen, was die Nutzenden brauchten. Ihr Credo: „Lassen Sie die Nutzenden einen Teil der Bibliothek besitzen!“

Wie können Bibliotheken Forschende unterstützen?

Anknüpfend an die Keynote beschäftigten sich viele Vorträge auf der INCONECSS damit, wie es Bibliotheken noch besser gelingen kann, Forschende zu unterstützen. Am ersten Tag stellten Markus Herklotz und Lars Oberländer von der Universität Mannheim ihre Ideen dazu mit einem Poster (PDF) vor.

Dabei ging es vor allem um den interaktiven virtuellen Assistenten (iVA), der Datenkollaboration durch Vermittlung von Rechtswissen ermöglicht. Entwickelt von den Initiativen BERD@BW und BERD@NFDI unterstützt der iVA Forschende dabei, die jeweils grundlegenden, datenschutzrechtlichen Bestimmungen zu verstehen und hilft dadurch, ihre rechtlichen Möglichkeiten der Datennutzung zu bewerten. Der selbstgesteuerte Assistent ist ein quellenoffenes Lernmodul und kann erweitert werden.

Paola Corti von SPARC Europe stellte mit ihrem Poster (PDF) das ENOEL-Toolkit vor. Es ist eine Sammlung von Vorlagen für Folien, Broschüren und Twitter-Posts, die es erleichtern soll, die Vorteile von Open Education an unterschiedliche Nutzungsgruppen zu kommunizieren.

Damit soll das Bewusstsein für die Bedeutung von Open Education erhöht werden. Es ist offen gestaltet, in 16 Sprachversionen verfügbar und kann an die Bedürfnisse der Organisation angepasst werden.

Am letzten Tag der INCONECSS berichtete Franziska Klatt von der Bibliothek für Wirtschaftswissenschaften und Management der Technischen Universität Berlin in ihrem Vortrag (PDF) über ein anderes Toolkit, das die Forschenden dabei unterstützt, die Methode Systematic Literature Review (SLRM) anzuwenden. Diese Methode stammt aus dem medizinischen Bereich und wurde an den wirtschaftswissenschaftlichen Kontext angepasst. SLRM hilft Forschenden, Verzerrungen und Redundanzen bei der Arbeit zu reduzieren, indem sie einem formalisierten und transparenten sowie reproduzierbarem Prozess folgen.

Das Toolkit hält eine Sammlung an Informationen über einzelne Phasen dieses Prozesses bereit, außerdem SLR-Quellen, Lernvideos und Beispielartikel. Durch Einsatz des Toolkits und die Informationen auf der dazugehörigen Website konnte die Medienkompetenz der Nachwuchsforscher:innen verbessert werden. Auch ein Onlinekurs ist geplant.

Erfahrungsberichte: Wie hat die Pandemie die Bibliothekswelt verändert?

Der Coronavirus lässt die Welt noch nicht los, auch nicht die der INCONECSS-Community: In der Postersession stellte Scott Richard St. Louis von der Federal Reserve Bank of St. Louis seine Erfahrungen beim Onboarding in einer hybriden Arbeitsumgebung vor. Dabei ging er auf einzelne Aspekte des Remote Onboardings ein, wie das Kennenlernen neuer Kolleg:innen oder das Fehlen eines physischen Raums für Begegnungen.

Ein Blick auf das Poster (PDF) lohnt sich, hält es doch eine Reihe von Vorschlägen für Neuangestellte und die Leitungsebene bereit, z.B.:

  • „Seien Sie direkt, und sogar verletzlich“,
  • „Seien Sie ansprechbar“ oder
  • „Was einst implizit oder informell war, muss explizit oder bewusst werden“.

Arjun Sanyal von der Central University of Himachal Pradesh (CUHP) berichtete in seiner Präsentation (PDF) von einem Projekt seines Bibliotheksteams: Sie haben beobachtet, dass die lange Abwesenheit vom Campus bei Studierenden eine Art Gleichgültigkeit gegenüber dem akademischen Alltag und „informational anxiety“ ausgelöst hat. Letzte manifestiere sich in einer Abneigung gegenüber den Informationsressourcen fürs Studium, aus einer Angst heraus, danach zu suchen. Um dem entgegenzuwirken, setzten die Bibliothekar:innen drei Arten von Maßnahmen ein: Mindmap-Sessions, einen experimentellen Makerspace und unterstützende Motivationsveranstaltungen. In der Mindmap-Session sammelte das Team z.B. gemeinsam mit den Studierenden Ideen für die Verbesserung der Bibliotheksdienste. Die Mühe habe sich gelohnt, denn nach einiger Zeit stellte man fest, dass der Campus und insbesondere die Bibliotheken wieder gerne besucht wurden. Darüber hinaus haben Makerspace und Motivationsveranstaltungen den Studierenden geholfen, die Freude am Lernen wiederzufinden, berichtet Arjun Sanyal.

Künstliche Intelligenz in Bibliotheken

Eines der zentralen Themen der Tagung war ohne Zweifel der Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) im Bibliothekskontext. Aus verschiedenen Blickwinkeln betrachteten die Panel-Teilnehmer:innen aus den Bereichen Forschung, KI, Bibliotheken sowie Thesaurus/Ontologie am zweiten Tag der INCONECSS Aspekte des Nutzens von KI an Bibliotheken. Es ging um die Unterstützung von Forschenden durch KI und um das Nutzen für bibliothekarische Dienstleistungen, aber auch um den Mehrwert und die Risiken, die durch KI entstehen.

Diskussion, Grafik: Karin Schliehe

Die Panelist:innen waren sich einig, dass sich neue Türen durch den Einsatz von KI in Bibliotheken öffnen würden, wie z.B. neue Ebenen der Wissensorganisation oder neue Services und Produkte. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Gedanke von Osma Suominen von der National Library of Finland, dass KI momentan kein Game Changer sei: Sie habe ein Potenzial dazu, sei aber noch zu unausgereift. Bei den Abschlussstatements griffen die Panelist:innen diesen Gedanken wieder auf: Die Zukunft der KI sei optimistisch, aber trotzdem solle man ihr skeptisch begegnen. Sie sei immer noch ein Werkzeug. KI werde, so die Diskutierenden, weder Bibliothekar:innen oder Bibliotheken noch Forschungsprozesse ersetzen. Letztere erforderten dafür zu viel Kreativität. Und bei den Bibliotheken sei die Veränderung der Geschäftskonzepte denkbar, jedoch nicht der Ersatz der Institution Bibliothek an sich.

Es war interessant zu beobachten, dass die Themen, die die Podiumsdiskussion prägten, auch in den anderen Vorträgen der Tagung zu finden waren: Die Daten, beispielsweise in Form von Trainings- oder Evaluationsdaten, waren allgegenwärtig. Die Diskutierenden betonten, dass die Güte der Daten für KI sehr wichtig sei, da sie die Qualität der Ergebnisse bestimme. Gute und verwertbare Daten zu finden, sei immer noch komplex und hänge oft mit Lizenzen, Urheberrechten und anderen Rechtsbeschränkungen zusammen. Auch das Chatbot-Team von der ZBW berichtete in der Postersession (PDF) über die Herausforderungen rund um die Qualität von Trainingsdaten.

Die Frage des Vertrauens in Algorithmen beschäftigte die Teilnehmenden ebenfalls intensiv. Einerseits ging es dabei um den Bias, der nur schwer und mit großer Achtsamkeit aus den KI-Systemen zu entfernen sei. Auch hier standen wieder Daten über allem: Wenn die Daten gebiast seien, sei es beinahe unmöglich, den Bias aus dem System zu entfernen. Manchmal führe es auch dazu, dass die Systeme gar nicht erst live gingen. Andererseits ging es um das Vertrauen zu den Ergebnissen, die ein KI-System liefert. Dadurch, dass KI-Systeme oft intransparent seien, fiele es z.B. Nutzenden wie auch Informationsspezialist:innen schwer, den durch das KI-System gelieferten Suchergebnissen bei einer Literaturrecherche zu vertrauen. Dies sind zwei der Schlüsselergebnisse aus dem Vortrag von Solveig Sandal Johnsen von der AU Library, The Royal Library, und Julie Kiersgaard Lyngsfeldt von der Copenhagen University Library, The Royal Library. Das Team aus Dänemark untersuchte zwei KI-Systeme, die bei der Literaturrecherche unterstützen sollten. Ziel war es, zu untersuchen, inwieweit verschiedene KI-gestützte Suchprogramme Forscher:innen und Student:innen bei der akademischen Literatursuche unterstützten. Während des Projektes wurde die Funktionalität der Systeme von Informationsspezialist:innen anhand der gleichen Suchaufgaben geprüft. Neben anderen Ergebnissen kamen sie zu dem Schluss, dass die Systeme in der explorativen Phase der Suche nützlich sein könnten, allerdings funktionierten sie anders als herkömmliche Systeme (wie klassische Bibliothekskataloge oder Suchportale wie EconBiz) und forderten, laut den Referierenden, die Fähigkeiten der Informationsspezialist:innen heraus.

Die Tagung fand dieses Jahr ausschließlich online statt. Da die Teilnehmenden aus unterschiedlichen Zeitzonen kamen, gab es die Möglichkeit, den Vorträgen asynchron und nach der Konferenz beizuwohnen. Eine Auswahl an aufgezeichneten Vorträgen und Präsentationen (Videos) ist auf dem TIB AV-Portal veröffentlicht.

Links zur INCONECSS 2022:

  • Programm INCONECSS
  • Interactive Virtual Assistant (iVA) – Enabling Data Collaboration by Conveying Legal Knowledge: Abstract und Poster (PDF)
  • ENOEL toolkit: Open Education Benefits: Abstract und Poster (PDF)
  • Systematic Literature Review – Enhancing methodology competencies of young researchers: Abstract und Folien (PDF)
  • Onboarding in a Hybrid Work Environment: Questions from a Library Administrator, Answers from a New Hire: Abstract und Poster (PDF)
  • Rethinking university librarianship in the post-pandemic scenario: Abstract und Folien (PDF)
  • „Potential of AI for Libraries: A new level for knowledge organization?“: Abstract Panel Diskussion
  • The EconDesk Chatbot: Work in Progress Report on the Development of a Digital Assistant for Information Provision: Abstract und Folien (PDF)
  • AI-powered software for literature searching: What is the potential in the context of the University Library?: Abstract und Folien (PDF)

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Über die Autorin:

Anastasia Kazakova ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Informationsvermittlung und Teil des EconBiz-Teams an der ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft. Ihre Schwerpunkte sind Nutzer:innenforschung, Usability und User Experience Design sowie forschungsbasierte Innovation. Sie ist auch auf LinkedIn, ResearchGate und XING zu finden.
Porträt: Fotografin: Carola Grübner, ZBW©

Grafiken: Inconecss-Impressionen von Karin Schliehe, ZBW©

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